Universe Unlimited
Theisia Mentala Individuae

 

09.12.2020 - Schreiben mit Gunnar - 2

 

Die Ruhe vor dem Sturm, der nie kam
(eine surreale Erzählung) 

 Alles schien so ruhig, so sicher, doch hinter der brüchigen Fassade eines neuen Normals war mehr Bewegung, als es gut war. 

Das einzige, das gut war, tröpfelte still und leise vor sich hin, bewegte sich schmiegsam durch hektische Fragmente unsinniger Verordnungen und Anweisungen, die längst schon keiner mehr verstand. Der Splitter in deinem Verstand, der monatelang juckte, festsaß und weh tat, war endlich dank des Eiters herausgespült und öffnete die Käfigtür, durch die nun mehr und mehr gefangene Seelen hindurchschlüpften, nicht wissend, auf welchem Boden sie aufschlagen würden. 

Doch der Eiter aus mannigfachen Wunden war es, der sie lieblich weich auffing und ihre harte Landung auf dem Boden der Tatsachen abfederte. Es war wie mit dem Kot, der stinkend zwar doch warm und schützend den Alltag eines jeden Lemmings umgab, unfähig, sich aus der selbstgebauten Jauchegrube seiner armseligen Existenz zu befreien, eine Komfortzone des Gestanks. 

 Ein Teil eines jeden Selbst sehnte sich zurück nach der Einfachheit und der bequemen Abgabe der Verantwortung an andere, doch der überwiegende Rest des verkümmerten Selbst schrie dagegen. Natürlich war es einfacher, bequemer, komfortabler und sicherer in einer Illusion weiterzuleben, die man selbst mit aufgebaut hat als nun unsicher in einer Welt voll von Ausrufezeichen, Fragezeichen, Punkten, Kommata und sonstigen Sonderzeichen einen fehlerfreien Satz zu formulieren. Dieser Satz muss nicht einmal was sagen, was aussagen, was bedeuten; es reicht, wenn er fehlerfrei sein könnte. Inhalte, Sinn und Leichtigkeit würden folgen, doch zuerst einmal muss man lernen zu sprechen, wenn man dieses Organ auch noch nie benutzt hatte. 

Schmerzen, das war das erste was jeder fühlte – doch es waren andere Schmerzen als die, die man zeit seines Lebens spürte, Schmerzen, die das Genick schwermachten, weil man buckelte, und die anderen Schmerzen, ähnlich die des Buckelns, jedoch invertiert, weil man immer zu jemanden aufschauen musste, Schmerzen im Magen, weil einfach alles, was wir nicht verkraften konnten in all den Jahren, letztlich auf den Magen schlug, Schmerzen in den Augen, weil man sich ständig irgendeiner Bildwiederholungsfrequenz synchron angleichen sollte, Schmerzen, in den Ohren, weil die Stille schon lange keiner mehr von uns kannte. 

Diese Schmerzen waren anders: sie gaben Hoffnung! Hoffnung, weil sie eine Verheißung mit sich führten, dass sie letztlich dienlich sind, etwas aufzubauen, sei es einen Muskel oder einen aufrechten Gang. Sie gaben Mut und Hoffnung, weiterzumachen, nicht stehenzubleiben, weiterzugehen, um gemeinsam nicht allein zu sein. 

Und so bewegte sich eine noch undefinierte Masse aus verlorenen Seelen, die nicht einmal wussten, dass sie eine hatte, durch die dreckigen Straßen des Molochs Stadt, die jede aus ihrer Vergangenheit sein könnte, doch in der jetzigen Wirklichkeit das Konstrukt der Mega-Stadt war, die zugleich den ganzen Planeten umfasste. 

Es gurgelte in ihren Därmen, doch es war kein Hunger, es war kein Beginn einer rektalen Ausscheidung. Alles war einfach in Bewegung, die Säfte, der Schleim, wie schon der Eiter und auch das Blut. 

Alles trieb die unwürdigen Gestalten langsamen Fußes in dieselbe Richtung, alle hatten nur dieses eine unbewusste Ziel: dem Moloch das zu geben, was er ihnen durch den Splitter gab, einen Schmerz, der mehr war und ist, als ein Stachel im Fleische des Löwen. Der Moloch sollte spüren, was er ihnen alle ihr ganzes Leben gab, er solle wissen, was er getan hatte, wirklich verstehen, was es bedeutete, nicht frei zu sein. 

Das Antlitz des Molochs lag nun vor ihnen, und seine höhnischen, herrischen Augen erkannte sie nicht als Individuen, die sie waren, sondern er sah lediglich eine kritische Masse sich auf ihn zubewegen. Er konnte sie nicht definieren, das war sein Verhängnis. Und so strömten die einzelnen Geister der Gerechtigkeit auf ihn ein, befüllten alle sichtbaren Höhlen seines Gesichts, das mehr und mehr einer Fratze glich. 

All die herrenlosen, sich selbst überlassenen Geschöpfe einer Herrlichkeit, die erst in Zukunft strahlen sollte, verschmolzen mit dem Moloch, blieben liegen, wo sie waren, schliefen ein. 

Und der Schlaf übermannte auch den Rest der Welt, auch hinter den Fassaden, und der Dornröschenschlaf sollte mehr als 100 Jahre dauern, denn die Wunden waren so tief, die Würde so verletzt, dass es tausende von Jahren dauern sollte, bis der erste Mensch erwacht.

 

Gunnar Kaiser verstarb mit nur 47 Jahren am 12.10.2023 an einem Krebsleiden.
IN MEMORIAM Gunnar Kaiser 

 

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